Trinkwasser
Eine Geschichte von Carla
Carla hat eine Ausbildung und lange Berufserfahrung im medizinischen Bereich. Aus politischen Gründen ist sie mit ihrem Mann und zwei kleinen Kindern aus Lateinamerika nach Deutschland gekommen.
Beide wollen sich schnell integrieren und sind sehr engagiert. Ihr Mann nimmt einen Job in der Landwirtschaft an. Carla besucht eine Gruppe zum Deutschlernen, während sie auf einen Platz in einem offiziellen Integrationskurs wartet. Und sie bewirbt sich darum, ehrenamtlich in einem Krankenhaus arbeiten zu können, um hier erste Berufserfahrungen sammeln zu können und ihre Sprachkenntnisse zu verbessern.
Sie haben inzwischen eine kleine Wohnung in einem hohen Mehrfamilienhaus und kommen mit finanzieller Unterstützung einigermaßen über die Runden. Vieles ist ganz anders als in ihrem Herkunftsland. Manches ist – vermeintlich - gleich. Aber anstrengend ist es schon das Trinkwasser, das sie jeden Tag im Supermarkt kaufen, die vielen Treppen herauf zutragen…
Erst durch Zufall, in der Pause eines Beratungsgespräches, erfährt sie, dass die ganze Wasserschlepperei völlig umsonst war. Carla und ihrer Familie war nicht bewusst, dass man in Deutschland Leitungswasser bedenkenlos trinken, Obst und Gemüse damit abwaschen, sich die Zähne putzen oder (ungekochte) Nahrung damit zubereiten kann. Acht Monate (!) haben sie von ihrem wenigen Geld unnötigerweise Wasser gekauft und die Treppen heraufgetragen.
Was sagt uns diese kleine Geschichte?
Wenn wir verreisen, auswandern, flüchten haben wir immer Gepäck dabei. Selbst wenn uns alles Materielle abhandenkommt – unsere kulturell und klimatisch geprägten Gewohnheiten, Grundwerte ebenso wie Alltagshandlungen, kommen mit. Natürlich stellen wir in der neuen Umgebung fest, dass manches anders ist, dass wir einen Teil des alten Gepäcks nicht benötigen, dass wir neue Verhaltensweisen lernen müssen. Doch was genau? Gerade die vermeintlich einfachen Dinge des Alltags können sehr komplex sein und gleichzeitig völlig vernachlässigt werden – eben, weil es sich um Alltägliches, Banales handelt. Manche Zugewanderte können eher Grammatikregeln herunterbeten oder Präsidenten aufsagen. Wichtig, ja, doch zunächst gibt es vielleicht noch Wichtigeres.
Und gerade wenn jemand schon eine Weile in einem anderen Land oder einer neuen Umgebung lebt, kommt er selbst und auch Außenstehende oft nicht darauf, dass nach wie vor einfache, grundsätzliche Dinge unklar sein können.
Wer von klein auf gewohnt ist, dass man Wasser in Plastikkanistern kauft, es auf mit Lastwagen oder Motorrädern regelmäßig angeliefert wird, kennt es nicht anders und überträgt dies auch auf andere geographische Regionen. Das ist letztlich nicht schlimm, es kostet „nur“ unnötig Geld und Mühe.
Wer von klein auf gewöhnt ist, sich bei Durst mal eben das Glas unter den Wasserhahn zu halten, oder aus Leitungswasser hergestellte Eiswürfel in die Limonade zu kippen und dies gedankenlos in tropischen Regionen macht, kann schnell ernsthaft erkranken. In ihrer Herkunftskultur war das Verhalten von Carla und ihrer Familien also absolut sinnvoll.
Helfen wir daher Touristen, Zugewanderten, Geflüchteten, indem wir mit ihnen auch auf die Banalitäten des Alltags achten und nicht erwarten, dass sie alles wissen müssten, weil das doch “normal“ sei. Seien wir selbst aufmerksam, wenn wir in andere Kulturen reisen. Beobachten, fragen und hoffen wir auf hilfsbereite Menschen.
Und seien wir dankbar für unsere oft so als selbstverständlich empfundene gute Wasserversorgung!